In Zeiten einer vornehmlich pixelbasierten Digitalmoderne führen die grafischen Arbeiten von Ulysses Belz (*1958) wie auch die Werke von Eunji Seo (*1984) zu einer Neuentdeckung der Linie. Vektoren, Trajektorien, Gravitäts- und Zeleritätslinien – die Linien in Belz’ und Seos Werken manifestieren, umfassen, konturieren oder deuten ausschließlich Immaterielles an. Sie erscheinen als reine Kinesis, als alles durchdringende Rhythmik und Energieströme.
Die Entstehung seiner Kupferstiche erläuternd, erklärt Ulysses Belz: „Übertragung und Leitfähigkeit sind gemeinsame Parameter im Kupferdruck […]. Die Kupferplatte nimmt während der Bearbeitung Körperwärme auf; sie wird vor dem Druck erneut erwärmt, um das Druckschwarz besser fließen zu lassen. Dank seiner Leiteffizienz nimmt Kupfer auch neuronale Spannungszustände und Erregungen an.“ In der unmittelbaren Betrachtung von Belz’ Kupferstichen wird jenes Spannungsmoment der Entstehung mentaler Phänomene, wie unser eigenes Denken und Vorstellen, visuell greifbar. Linien erscheinen bei Belz als Transmitter, wie etwa in seiner großformatigen Grafik You are HERE (2020). Ohne Stofflichkeit zu schaffen, geben sie Aggregatzustände vor; ohne einen Raum zu definieren, konstituieren sie Räumlichkeit; sie bilden Gravitationsfelder, die von keiner Masse ausgehen. Alles scheint fortwährend in Bewegung, um doch jeden visuellen Ordnungsversuch des Betrachters zu negieren. Indes ergibt sich in der längeren Betrachtung der Eindruck eines kognitiven Hintergrundrauschens, in das der Künstler uns über das kartografische Symbol des roten Punktes und den Titel hineinzuwerfen versucht. „Du bist HIER“ – doch wo ist HIER und vor allem wer ist oder woraus setzt sich Du zusammen? Die Frage nach dem „Ich“, das seit Descartes mit dem eigenen Denken fest verwoben ist, flammt unweigerlich auf. Damit lässt sich eine Brücke zum Œuvre des Künstlers schlagen, das seit 2005 durch seine tiefe Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften und den eigenen kognitiven Prozessen in Form der Metakognition geprägt wird.
Eunji Seos filigrane Arbeiten sind auf wirkungsästhetischer Ebene geprägt durch formale Strenge, Konzentration und ein kontinuierliches Moment der Erscheinung. Sie spielen mit den wahrnehmungsphysiologischen Grenzen des Betrachters, richten jedoch gleichzeitig auch das Augenmerk auf die Fremdbestimmtheit jeden schöpferischen Aktes. Aus der Distanz zeigen sie sich zunächst als rein monochrom gefasste Farbfelder. Nähert man sich diesen, verändern sie für das Auge des Betrachters ihre Erscheinung; sie beginnen zu vibrieren und zu flimmern. Erst aus nächster Nähe kommen die in unendlicher Zahl mit absoluter Willenskraft stoisch aneinandergereihten Linien zum Vorschein, die jene optischen Effekte bedingen. Der Perfektion des visuellen Zusammenspiels aus unentwegter Wiederholung steht die individuell geprägte Linie als Einzelobjekt und als Spur des schöpferischen Prozesses gegenüber. Keine Linie gleicht der anderen, jede Linie steht für sich und ist durch Unregelmäßigkeiten in ihrer Einzigartigkeit charakterisiert. In ihren Bildern sucht Seo ganz gezielt den Bruch mit einer mathematisch geprägten Idee von Perfektion, wie ihre Titel schon zum Ausdruck bringen. Es sind formelartige Bezeichnungen, wie (6,5)3 (2020) oder (1-19) (2020), die in Referenz zu ihrer Vorgehensweise stehen: Jede Zahl spiegelt als Determinante die Ordnung der Zeichnung wieder und steht entweder für den Abstand, die Länge oder Breite. Die scheinbare Ordnung trägt jedoch ein aleatorisches Moment in sich, denn eine der Determinanten wird von Seo durch die Nutzung eines Würfels bestimmt. Dieses Prozedere ist gekoppelt an den Anspruch der Künstlerin „ein Gleichgewicht einerseits zwischen 'Differenz und Wiederholung' und andererseits zwischen 'Chaos und Ordnung' sowie 'Zufall und Notwendigkeit' zu finden“.
Ausstellung
16. Juli - 28. August 2020
Türkenstr. 32, 80333 München